Socken Import, 2003, Öl auf Leinwand, 125,5 x 170 cm
Geht man heute durch die Seilerstraße parallel zur Reeperbahn in Hamburg, läuft man durch ein Viertel, das im Lexikon stellvertretend für den Begriff Gentrifizierung stehen könnte. Auf der einen Seite stemmen sich die rückseitigen Häuserfassaden von Hamburgs sündiger Touristen- und Jungegesellenabschiedsmeile gegen die Zeit. Ihre verwitterten Reklameschilder preisen Peepshows an, die seit über dreißig Jahren verboten sind und längst der Vergangenheit angehören. Auf der anderen Straßenseite wechseln sich auf Hochglanz polierte Altbauten mit formschönen Neubauten ab, deren Mietpreise jenseits irgendeiner Vernunft liegen, und dazwischen immer wieder Espressobars, Pop-up-Stores und sonstige Laufstege des urbanen Hipstertums. In eben jener Straße stolperte Klaus Hartmann 2003 über das damals schon lange geschlossene Fachgeschäft Landers-Socken-Import. Das fotografisch festgehaltene Schild im Schaufenster mit abgeblätterten Klebebuchstaben und Ziffern sowie reichlich Staub und toten Fliegen lieferte die Grundlage für Hartmanns Ölgemälde, das diesem skurrilen Alltagsfund ein malerisches Denkmal setzt.
Das Bild wird etwas rechts der Mitte vertikal in zwei kompositorische Hälften gegliedert. Auf mehrschichtig gemalten grau-weißem Grund wird die linke vom Schriftzug des Strümpfegroßhandels und einigen willkürlich angeordneten Ziffern in den Farben Rot, Weiß und Blau dominiert und unterhalb durch ein Wellenmuster ergänzt. Der rechte Bereich nimmt die Buchstaben- und Zahlenkombination wieder auf und setzt sie über vertikal verlaufende Streifen in giftigem Grün, die Anklänge an eine fremde Nationalflagge wachrufen. Auch das von Hartmann verwendete Kolorit für die typografischen Elemente erinnert vor allem in Verbindung mit dem Wort „Import“ an die Landesfarben der USA. Möchte man das Gemälde in einer kunsthistorischen Tradition verorten, könnte man es vielleicht als die Mauerblümchenvariante der US-amerikanischen Pop Art charakterisieren, als affirmative Tristesse. Socken Import liest sich wie eine Antithese zu James Rosenquists schillernden, der Werbesprache entnommenen Großformaten, in denen er glamourös surrealistische Sujets entwickelt.
Aber vermutlich tappt man mit diesen stilistischen Mutmaßungen und Deutungsansätzen genau in die von Hartmann gelegte Falle. Während seines Studiums bei Werner Büttner in Hamburg war er häufig wenig angetan von den theoretischen Diskussionen seiner Kommilitonen über sogenannte Kontextkunst, von der eigentlich auch heute niemand so genau weiß, was sie genau sein soll. Auf seine malerischen Vorbilder angesprochen antwortet er lieber mit Fotografen und betont, dass er in seinen Arbeiten nicht unbedingt von der Malerei ausgeht, sonder vielmehr am Erkunden kurioser Alltäglichkeiten und Zufälle interessiert ist. Und tatsächlich machen Hartmanns Bilder am meisten Spaß, wenn man sie einfach als das betrachtet, was sie sind: die ultimative Einheit von Kunst und Leben, ästhetische Spiegelungen unserer Realität, die uns auf häufig übersehene Details aufmerksam machen. Statt über Kunstgeschichte denkt man vielleicht lieber darüber nach, was das wohl für fabelhafte Socken gewesen sein mögen, die die Firma Landers extra einführte; vielleicht Tabi aus Japan, Pontifikalstrümpfe aus dem Vatikan oder aufregende Strumpfhosenkreationen aus Frankreich? Wer mag wohl die Kundschaft gewesen sein? Und warum musste der Laden schließen? Für Hartmann muss sich sein Fund schon damals wie ein wunderbarer Anachronismus angefühlt haben. Heute steht nicht einmal mehr das Gebäude. Stattdessen trifft man auf ein Haus voller Eigentumswohnungen, in dessen Erdgeschoss sich die Kreativbranche mit ihren hoffnungsfrohen Unternehmen eingenistet hat. Was wohl die Juroren der Start-up-Castingshows im Fernsehen zur Idee eines Sockenimportgeschäfts zu sagen hätten?
Hartmanns Motiv existiert in unserer Welt nur noch als Spur im Internet oder vielleicht noch als vage Erinnerung langjähriger Anwohner. Sein Gemälde jedoch bleibt. Stephan Schmidt-Wulffen überschrieb seinen Aufsatz über den Künstler anlässlich dessen erster Einzelausstellung 1998 Verlorene Bilder und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Hartmanns Socken Import erzählt von einer Vergangenheit, für die sich unter normalen Umständen wohl kaum jemand interessieren würde. Es erweckt Erinnerungen an eine Zeit, die ganz bestimmt nie so war, wie man sie sich in sentimentalen Gedanken ausmalt. Der Laden ist zu, das Haus ist weg, in der Seilerstraße werden schon längst keine Taue mehr angefertigt, der Künstler selbst wohnt auch nicht mehr da. In Hartmanns Bild manifestiert sich das, was dabei auf der Strecke bleibt, das Unbeachtete und Kleine.
TOBIAS PEPER
Der Text ist erschienen in dem Buch „mindestens_ein_gedanke_zu, 25 Texte zu 25 Arbeiten von 25 Künstlern des Bremerhaven-Stipendiums“, Kerber Verlag 2017, herausgegeben von Kunst & Nutzen Atelier e.V. Bremerhaven © Tobias Peper, Klaus Hartmann, Kunst und Nutzen
Tobias Peper (geb.1984) studierte Kunstgeschichte, Soziologie und Deutsche Philologie in Köln und ist künstlerischer Leiter des Kunstvereins Harburger Bahnhof. Zuletzt arbeitete er als kuratorischer Assistent am Kunstverein in Hamburg. Vorher war er am Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich und am Museum Ludwig in Köln tätig. 2012 arbeitete er für die new talents-biennale cologne.