Dietmar Elger - Residence de la Balance

„Ich hoffe immer, dass die Kombination gut ist – dass es wirkt, das Dokumentarische gegen das, was von dir kommt, was gemischt sein soll. Und dann weiss man am Ende nicht so genau, was Fiktion dabei ist.“ Robert Frank, Juli 2000


Klaus Hartmann entwirft in seiner Malerei eine eigenwillige Bilderwelt, die sich jeder eindeutigen Beschreibung entzieht. Der 1969 in Eisleben geborene und heute in Hamburg lebende Künstler arbeitet zwar gegen-ständlich, und im Zentrum stehen immer signifikante, leicht identifizierbare Objekte. Doch trotz dieser offensichtlichen Banalität und Vertrautheit der Motive verspürt der Betrachter in seiner Begegnung mit den Darstellungen schon bald eine Distanz. Denn sie offenbaren eine im wahrsten Sinne ver-rückte Welt, die ihm merkwürdig fremd und ihrem natür-lichen Bezugssystem entrissen erscheint. Das bleiche Licht, das viele Arbeiten aus den vergangenen zwei Jahre durchdringt, taucht die gemalten Landschaften in eine irreale Farbigkeit ein. Zwar konzentriert sich Hartmanns bildnerisches Interesse auf die alltäglichen Lebensräume und sonntäglichen Vergnügungsstätten der Menschen, weshalb Darstellungen von Kleingartenanlagen, Fußgängerübergänge, Riesenrädern und Achterbahnen sich geradezu leitmotivisch durch sein Werk ziehen. Doch bleiben diese Behausungen immer menschenleer und alle Türen stets verschlossen. Niemand nutzt die hoch aufragenden Brücken, und kein Besucher verirrt sich in die sich bis in die Wolken reckenden Gondeln der Fahrgeschäfte. In einem unbetitelt gebliebenen Werk von 2000 erkennen wir zwar das gewohnte Mobiliar eines Strandurlaubes wieder, doch sind alle Liegestühle hier bereits schon wieder zusammengeklappt und die Sonnenschirme von unsichtbarer, ordnender Hand unter Planen verhüllt worden. Am „Tribünenweg“, ebenfalls 2000 entstanden, streut lediglich ein einsamer Hund entlang. Die Karussells in den Vergnügungsparks scheinen still zu stehen. Über allen Landschaften des Künstlers breitet sich eine bedrückende Stille aus.

Die Bilder von Klaus Hartmann stellen sich in der Nahsicht als malerische Konstruktionen heraus, auch wenn sie alle in einer präzisen Naturbeobachtung des Künstlers seiner Umgebung ihren Ursprung haben. Diese Vertrautheit mit den Motiven, die der Ausstellungsbesucher zunächst verspürt, schwindet allerdings, je angestrengter er versucht, sich die Logik der Gesamtkomposition zu erschließen. Ein solches Bemühen muss hier scheitern, weil Hartmann in alle seine Bilder thematische Brüche integriert, die seine Darstellungen als aus Wirklichkeitsfragmenten collagierte Welten erscheinen lassen. Die Irritation gelingt selbst dort, wo er, wie in „Grüne Brücke“ (2001), die strenge Konstruktion einer Fußgängerbrücke lediglich in ein dichtes Schneegestöber einhüllt. Auch diese, eigentlich banale Situation gerät ihm zu einem merkwürdig fremden Ort und die Kombination der gestal-terischen Elemente zu einer fast surrealen Konfrontation.

Das Bild „Ferienlager“ von 2000 behauptet bereits durch seinen Titel eine ironische Distanz zum dargestellten Motiv. Zu erkennen sind zwei bescheidene Einfamilienhäuser mit spitzen Satteldächern, die sich hinter riesigen bepflanzten Blumenkübeln zu verstecken suchen. Überragt werden diese Gebäude von drei schlanken Straßenlaternen, und zu beiden Seiten werden sie von breiten, leicht erhöhten Holzstegen bedrängt. Die Wege laufen auf eine unbelebte Landschaft zu, die im Hintergrund von einer schnurgeraden Horizontlinie abgeschlossen wird. Über diesem unwirklichen Schauplatz ragt ein pastelliger, von flachen Wolken durchzogener Himmel empor, der die Landschaft in sein fahles Licht taucht. „Verlorene Häuser“, der Titel eines im Jahr zuvor entstandenen Bildes aus derselben Werkgruppe, würde auch die Stimmung dieses „Ferienlagers“ treffender charakterisieren. Mit einem ähnlichen, allgemeineren Titel, „Verlorene Bilder“, überschrieb Stephan Schmidt-Wulffen bereits 1998 einen Katalogbeitrag zu den Arbeiten von Klaus Hartmann.

Manchmal aber erweist sich das, was dem Betrachter wie eine Bildmontage unterschiedlicher Realitätsfragmente erscheint, dann doch nur als ein Fundstück unserer Alltagswelt. Vom Künstler allerdings so durch die Wahl des Ausschnittes als Bild arrangiert, dass sich eine scheinbar manipulierte Realität einstellt. Hartmann ist ein intensiver Beobachter, der mit wachem Blick seinen alltäglichen Lebensraum durchstreift und mit dem Photoapparat allerlei bemerkenswerte Details und überraschende Situationen fixiert, um sie später als Quellenmaterial für seine Malerei auszuwerten. Der Pagoden-ähnliche Eingang zu dem
„Restaurant Jing wei“ (2002), der einem norddeutschen Fachwerkhaus vorgesetzt ist, die einsame, scheinbar ohne jede Notwendigkeit die flache Landschaft überquerende Fußgänger-brücke „BBO“ (2003), der Schriftzug „Residence de la Balance“ auf dem gleichnamigen Werk von 2003, den der Künstler als Anschrift auf einem Briefkasten im französichen Burgund entdeckte, oder die Werbebotschaft „Socken Import Landers“ (2003) mit den fehlenden Buchstaben und den sinnfrei auf der Fläche verstreuten Zahlen: sie alle sind Fundstücke des aufmerksamen Motivsammlers Klaus Hartmann.

Der französische Dichter Isidore Ducasse Comte de Lautréamont lieferte den Pariser Surrealisten mit seiner Beschreibung von der Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf einem Seziertisch das Musterbild für die surrealistische Wahrnehmung unserer Wirklichkeit. Hartmanns malerische und motivische Bildkonstruktionen bewegen sich in dem Grenzbereich zwischen einer solchen surrealen Weltsicht und dem zeitgenössischen Realismus eines Alex Colville. Der hatte für sich den künstlerischen Anspruch formuliert, auch als guter Realist alles erfinden zu müssen. Eine Ausstellung im Hamburger Kunstverein nahm sich 1978 dieses Mottos als Titel an. Während die Surrealisten jedoch hervorhoben, dass Situationen, wie die von Lautréamont beschriebene Konstellation, auch im Alltag vorstellbar wären, sieht der amerikanische Realist in seiner Konzeption von Malerei keine beschreibende, sondern die konstruierende Repräsentanz einer bildnerischen Wahrheit. Klaus Hartmann bewegt sich im Zwischenreich dieser beiden, sich von gegensätzlichen Polen einander annähernden ästhetischen Programme. Dem entspricht sein besonderes Interesse für René Magritte, der seine surrealen Bilderfindungen in einer kunstlosen, fast naiven Maltechnik vortrug. Doch während sich bei dem belgischen Surrealisten die Metamorphosen der Objekte und die Manipulationen unterschiedlicher Bildebenen schnell wieder in ihre Bestandteile zerlegen lassen, bleiben Hartmanns Motive in einem ambivalenten Schwebezustand und einer poe-tischen Offenheit gefangen. Seine Darstellungen scheinen Geschichten entnommen, die weder Anfang noch Ende kennen. Die Fußgängerbrücken, Eisenbahnlinien und Stege führen in ein Nirgendwo. Unbewohnte Häuser, unbenutzte Liegestühle und leere Karussells verweisen zwar geradezu penetrant auf die Anwesenheit des Menschen, doch der tritt hier nie in Erscheinung.

Malerischer Ausdruck und motivische Kombinatorik finden in den Werken von Klaus Hartmann zu keiner Übereinstimmung, die dem Betrachter helfen könnte, sich diese Bildwelten vollständig zu erschließen. Gerade darin liegt aber auch ihr ästhetischer und erzählerischer Reiz. Die Unabgeschlossenheit der Motive lässt den Betrachter fortwährend im Ungewissen; keines der Bilder gibt ihm eine eindimensionale, schlüssige Interpretation an die Hand. Hartmann ist ein Naturalist, der nicht die Wahrheit dieser Welt sucht, sondern in seinen Bildern eine Wirklichkeit schafft, welche sich als genuin malerische bewährt.

DIETMAR ELGER


Der Text ist erschienen im Katalog Klaus Hartmann, herausgegeben von der Jürgen Becker Galerie Hamburg.
© 2003 Dietmar Elger, Jürgen Becker, Klaus Hartmann

Dietmar Elger ist Kunsthistoriker und leitet das Gerhard Richter Archiv in Dresden.